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Passive Sterbehilfe / Story, Strategie und Kommunikation
Passive Sterbehilfe / Story
Job: WOZ lanciert das Ressort «Leben» und sucht eine Auftaktstory. Done: Artikel über das Lebensende, das immer öfter mit Sterbehilfe geschieht – mit berührenden Fragen.
WOZ Ressort Leben
Research / Text
Schlaf, Mütterchen, schlaf
Passive Sterbehilfe: Eine alte Frau erleidet einen Schlaganfall. Sie kann kaum noch sprechen. Anstatt einer Infusion gibt es täglich ein paar Löffelchen Tee. Sie stirbt. Zurück bleiben Angehörige mit Zweifeln und schlechtem Gewissen. Gesetzliche Richtlinien helfen ihnen nicht – weil es sie noch nicht gibt. Kein Einzelfall.
Von Andi Portmann (Text) und Trix Niederau (Bilder)
Heute wirkt der Hochnebel wie ein Filter, der alle Schatten schluckt. Da liegt er, der Friedhof. Eine Eisschicht zieht sich den Gräbern entlang. Im Zentrum an einer Mauer ruhen Platten. Auf einer steht geschrieben: Anna K. 1911–2003. Davor liegt in einer Weihwasserschale festgefroren einer dieser kleinen, borstigen Besen, die wie Flaschenputzer aussehen, daneben drei Kerzen und ein Gesteck aus Tannen-«Chriis» mit roten Zapfen.
Gepflegte Normalität, das Ableben einer alten Frau im Altersheim, mitten im letzten Sommer – mit passiver Sterbehilfe, denn Anna K. entschlief, nachdem sie infolge eines Schlaganfalls drei Wochen nicht mehr richtig sprechen und trinken konnte. Infusionen wurden keine gesteckt, nur noch ein wenig Tee eingeflösst. Diese letzten Wochen waren anstrengend für Anna K. und ihre Angehörigen.
Die Notwendigkeit zu passiver Sterbehilfe ist gesellschaftlich unbestritten, doch fehlt bis heute eine gesetzliche Regelung (siehe Textende: Beschleunigtes Sterben). Die Verantwortlichkeiten bleiben diffus. Eine problematische Grauzone, besonders bei nicht urteilsfähigen Kranken. Zurück bleiben verunsicherte Angehörige, die einen Entscheid mittragen müssen, dessen Konsequenzen sie kaum beurteilen können. Wie diffizil diese Auseinandersetzung sein kann, zeigen die Gespräche mit Nina und Hans. Er ist der Sohn der Verstorbenen, Nina seine Tochter. Ihre Urteile unterscheiden sich.
Nina, die Enkelin
Als an einem Sommerabend per Handy die Nachricht kam, die Grossmutter sei gestorben, da stiegen Tränen in ihr auf. Nur noch Tee einlöffeln, das sei nicht genug gewesen, meint sie. Ihr Mitgefühl rebellierte, man habe die Grossmutter hilflos sterben lassen. Nun sitzt Nina in der Altbauküche auf einem Klappstuhl hinter dem Holztisch. Sie studiert Geisteswissenschaften, spricht dezidiert und hastig mit kurzen Denkpausen. «Die Grossmutter war gottesfürchtig, ein beherzte Frau, die zupacken konnte. Brauchte jemand Beistand, dann hat sie geholfen.»
Doch dann kam der erste Schlaganfall vor sechzehn Jahren. Anna K. kämpft sich ins Leben zurück. Mühsam lernt sie wieder schreiben, doch gehen kann sie nie mehr richtig. Als der Grossvater stirbt, kommt sie ins Altersheim. «Da wurden die Besuche der Familie zu Fixpunkten ihres Alltags. Darauf hat sie hingelebt.» Blieben die Besuche aus, dann hat sie angerufen, klipp und klar gesagt, was sie wollte. Nina zuckt mit den Schultern und lächelt: «Wenn man alt ist, möchte man besucht werden.»
Mitten in der Sommerhitze erleidet Anna K. einen weiteren Schlaganfall, wird aber nicht mehr ins Spital eingeliefert. Zusammen mit ihren Eltern besucht Nina die Grossmutter. Die alte Frau kann kaum noch sprechen und bewegt den einen Arm in spastischer Nervosität. Sie erkennt Nina und kann auch die Namen ihrer Urenkel artikulieren, die vorher zu Besuch waren.
«Ja, sie war wach und ansprechbar, konnte sich nur lallend äussern, aber sie trug auch ihr Gebiss nicht.» Ihre Eltern seien am Bett gestanden und hätten kaum etwas verstanden. «Aber ihre Worte waren nicht zusammenhangslos, ich konnte den Sinn rekonstruieren.» Und als Nina der Grossmutter Mut machte, antwortete diese: «Das ist schön.»
Die Pflegerin sagt, Anna K. könne sich wieder erholen. Nina rechnet mit ihrer Genesung doch sie versteht nicht, warum die Grossmutter bei drückender Temperatur so wenig Flüssigkeit bekommt, nicht einmal eine Infusion. Bloss einige Löffelchen Tee, die sie auf Kommando brav geschluckt habe. Und dann will Anna K. nach der Tasse greifen, doch darf sie daraus nicht trinken. Das sei nicht gut für die alte Frau, so die Pflegerin. Nina ist beunruhigt, spricht die Pflegerin an, erhält als Antwort, dass man das bei alten Leuten so mache. Doch Nina findet, dass damit die Wünsche der Grossmutter missachtet wurden.
Auf der Heimfahrt im Auto spricht Nina die Eltern auf die fehlende Infusion an, eine kritische Stimme vom Rücksitz aus. «Da wurde mir das Gefühl vermittelt, dass ich das Sterben nicht hinnehmen könne. Aber ich habe nur die Pflegemethode hinterfragt.» Wissen sei wichtig, sonst neige man dazu, Verantwortung abzutreten und akzeptiere einfach. «Als die Pflegerin abwesend war, habe ich nicht gewagt, der Grossmutter Tee zu geben, obwohl der Becher da stand. Ich habe mich an die Regeln gehalten und ihr nichts gegeben, logisch.»
Eine Woche später ist Anna K. tot. Nina macht sich Vorwürfe, sitzt da und spekuliert über Dehydration und die Möglichkeit, Flüssigkeit subkutan zu injizieren. Dann steht sie auf, lehnt sich gegen die Heizung und kreist das eigentliche Problem ein: «Man gibt schon viele Kompetenzen ab, indem man sie ins Altersheim bringt. Ganz am Schluss ein riesiges Misstrauen zu offenbaren, wäre ein Affront gegen das Pflegepersonal.»
Seither quält sie der Gedanke an den Tod der eigenen Eltern. Nina glaubt, die Grossmutter hätte gerne weitergelebt, aber sie konnte nicht mehr kommunizieren. Drei Wochen habe sie um ihr Leben gekämpft, die Unterstützung blieb ihr verwehrt und sie sei gescheitert. Sie verschränkt die Arme und starrt zur Decke: «In meinen Augen hatte sie einfach einen Kreislaufkollaps.»
Hans, der Sohn
Nach dem Tod seiner Mutter war er manchmal richtig missmutig. Dann äusserte er sich schmallippig: «Wenn du alt bist, dann lassen sie dich einfach so eingehen.» Monate danach, eines späten Abends, platziert sich Hans vis-a-vis dem Schreibenden auf einem kubischen Sofa. Hinter ihm spiegelt sich der Raum in der Fensterfront und Lichter blinken über den See. Er hat die Mutter regelmässig aufgesucht, war der letzte Besucher vor ihrem Tod. Beruflich leitet er ein Unternehmen.
In diesen letzten Wochen habe sie zu achtzig Prozent geschlafen und in den zwanzig Prozent, als die die Augen geöffnet habe, da habe man das Gefühl gehabt, sie sei vielleicht noch geistig präsent. «Vor allem Nina hat erlebt, dass Mutter sie erkannt hat.» Reagiert habe sie damals noch, aber sie habe nicht mehr sprechen können, höchstens noch Wortfetzen.»
«Mutter war 92 und ihr Zustand verschlechterte sich stufenweise. Deshalb – nehme ich an – haben die Ärzte prognostiziert, dass sie sich nicht mehr erholen werde.» Anna K. durfte noch etwas Jogurt essen. Zudem wurde ihr Mund mit einem Schwamm befeuchtet. Ein Apparat versprühte ein Aerosol, das sie einatmete.
Ihre Leiden seien damit vermutlich schon vermindert worden, per saldo, meint Hans. «Angenommen, sie hätte überlebt, dann hätte sie wahrscheinlich unter grössten Defiziten gelitten.» Pause, dann fährt er fort: «Hingegen habe ich mir die Frage gestellt, muss das sein, dass jemand so ablebt. Weil der Gedanke, dass sie vielleicht realisiert hat, dass sie stirbt und niemand hilft ihr, ist deprimierend.»
Auf die Frage, ob er auch beobachtet habe, wie die Mutter den Arm nach der Teetasse ausstreckte, antwortet er: «Das kann sein, aber daraus trinken hätte sie nicht gekonnt. Wenn der Schluckreflex ausfällt und der Tee in die Lungen fliesst, dann wäre das tödlich.» Dennoch bleiben die Folgen diesselben, weil Anna K. auch stirbt, wenn sie keine Flüssigkeit bekommt. Hans beugt sich vor, hebt die Hand, um seinen Gedanken mehr Gewicht zu verleihen: «Das ist ein schwieriger Bereich. Das Personal kennt die Risiken. Nicht aber ein Besucher, der denkt: Jesses Gott, gebt ihr doch den Becher.» Gebe man ihr zu trinken, dann verkürze man aktiv die Lebensdauer, gebe man nichts, dann habe man lediglich passiv die Hilfe verweigert. Dann hält er nachdenklich inne. Denn manchmal schmerzen diese Kausalitäten.
In den letzten Tagen atmet Anna K. schwer und repetiert mehrmals die Worte: «Hat keinen Wert mehr.» Für Hans war das hart, er spricht von Momenten des Bewusstseins: «Da hat sie realisiert, wo sie steht, sie ist abhängig, kann nichts mehr tun, nur noch feststellen, das hat keinen Wert mehr.» Doch losgelassen habe sie bis zum Schluss nicht. «Sie hat nie aufgegeben.» Hans vermutet, dass Anna K. nicht an einem Kollaps gestorben sei, doch wissen tue das niemand.
Selber möchte Hans nicht wie seine Mutter sterben. Abschied nehmen wäre wichtig für ihn und das habe die Mutter nicht mehr aktiv gekonnt, es sei zu spät gewesen. Am letzten Abend ist Anna K. bewusstlos und Hans hält ihr die Hand. «Ich habe nicht gewusst, ob sie mich noch wahrnimmt. Ich habe ihr dann für alles gedankt und mich von ihr verabschiedet.»
Bald Schluss mit dem Dilemma
Die Stille um die Ruhestätte von Anna K. bleibt hinter den Friedhofsmauern zurück, draussen rauscht unermüdlich der Verkehr.
Alltäglich sind die Sterbeentscheide geworden. Trotzdem bleibt die Krux, wie mit dem letzten Willen von nicht mehr urteilsfähigen Menschen umzugehen sei, rechtlich ungelöst. Nach einer parlamentarischen Motion steht die Problematik zwar bereits seit 1994 auf der politischen Agenda – im Fall von Anna K. bleibt einzig ein schaler Nachgeschmack. Da sind die Widerstände gegen die Sterbehilfe und die offenen Fragen zu medizinischen Sachverhalten, die Selbstzweifel und die Gedanken, die sich immer wieder um diese letzten Erlebnisse von Anna K. winden.
Noch ist die passive Sterbehilfe lediglich durch die Richtlinien der Schweizerischen Medizinischen Akademie der Wissenschaften geregelt. Doch das darin festgehaltene Primat der Ärzteschaft scheint nicht mehr zeitgemäss.
Eine europaweite Studie zeigt denn auch ein Nord-Süd-Gefälle bei ärztlichen Entscheidungen. Der kulturelle Hintergrund spielt eine wichtige Rolle. Personal auf Intensivstationen in Südeuropa scheint sich mit expliziten Entscheiden am Lebensende schwerer zu tun und sich mehr dem klassischen Arztideal verpflichtet zu fühlen. Entscheidungen zur Sterbehilfe sind eben nicht einfach wertneutrale Sachurteile und können daher auch nicht vorbehaltlos an MedizinerInnnen delegiert werden.
Dass der Entscheid den Angehörigen zugeschoben wird, ist ebenso unbefriedigend. Angehörige sind gezwungen, sich auf Mutmassungen zu stützen, sind hin- und hergerissen zwischen Hoffnungen und Ängsten. Das Dilemma kennen auch Nina und Hans nur zu gut.
Auf die Frage, was man denn besser machen könnte, meint Hans: «Es braucht unbedingt eine rechtzeitige Diskussion über das Sterben, damit Nahestehende die Wünsche der Betroffenen kennen und sich orientieren können.» Nina ist gleicher Meinung, geht aber noch einen Schritt weiter: «Man müsste Formulare haben.» Und tatsächlich kursieren Gesetzesvorschläge, die Wert auf so genannte Patientenverfügungen legen. Diskutiert wird weiter, dass eine von der kranken Person einst bevollmächtigte Person den mutmasslichen Willen vertreten könnte oder dass bei einer Meinungsverschiedenheit zwischen Angehörigen und Ärzten ein neutrales Gremium der Gemeinde entscheiden sollte.
Der Fall von Anna K. ist nur ein einziger von vielen. Werden es die Angehörigen in Zukunft einfacher haben? Im vergangenen Sommer beauftragte das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement die nationale Ethikkomission, die Problematik der Sterbehilfe zu prüfen, einen Bericht und eine gesetzliche Regelung zu erarbeiten. Resultate sollen im Sommer 2004 vorliegen. Greifen können Richtlinien aber erst, wenn diese erfolgreich die Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben fördern.
BESCHLEUNIGTES STERBEN
Passive Sterbehilfe
Als passive Sterbehilfe wird der Abbruch oder Verzicht auf lebenserhaltende Massnahmen bezeichnet. Wird zum Beispiel Flüssigkeit nicht mehr künstlich verabreicht, sprechen MedizinerInnen von Dehydrierung. Im Strafgesetzbuch nicht ausdrücklich geregelt, wird passive Sterbehilfe als erlaubt angesehen. Eine entsprechende Definition ist in den Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) enthalten. Betrifft 28 Prozent der Todesfälle in der Schweiz*.
Dehydrierung
Ab den achtziger Jahren wurde zunehmend berichtet, dass dehydriert Sterbende weniger leiden. Untersuchungen erhärten die Befunde. Dehydrierte leiden weniger unter Atem- und Verdauungsbeschwerden und haben eine erhöhte Ausschüttung körpereigener Opiate.
Indirekt aktive Sterbehilfe
Zur Linderung von Leiden werden Mittel (etwa Morphium) eingesetzt, die als Nebenwirkung die Lebensdauer verkürzen können. Der früher eintretende Tod wird in Kauf genommen. Im Strafgesetzbuch nicht ausdrücklich geregelt, gilt indirekt aktive Sterbehilfe als grundsätzlich erlaubt und wird auch in den Richtlinien der SAMW als zulässig betrachtet. Betrifft 22 Prozent der Todesfälle in der Schweiz*.
Direkt aktive Sterbehilfe
Gezielte Tötung zur Verkürzung der Leiden eines anderen Menschen – indem zum Beispiel absichtlich eine tödliche Substanz verabreicht wird – wird direkte aktive Sterbehilfe genannt. Nach Art. 111 (vorsätzliche Tötung), Art. 114 (Tötung auf Verlangen) oder Art. 113 (Totschlag) ist direkte aktive Sterbehilfe strafbar. Betrifft 0,7 Prozent der Todesfälle in der Schweiz*.
Beihilfe zum Suizid
Bei der Suizidhilfe wird den PatientInnen die tödliche Substanz vermittelt, diese muss von den Suizidwilligen ohne Fremdeinwirkung selber eingenommen werden. In der Schweiz leisten Organisationen wie Exit Beihilfe zum Suizid, was zur Debatte über Sterbetourismus geführt hat. Wer jedoch «aus selbstsüchtigen Beweggründen» jemandem zum Selbstmord Hilfe leistet, ist nach Art. 115 strafbar. Die SAMW betrachtet Beihilfe zum Suizid nicht als «Teil der ärztlichen Tätigkeit». Betrifft 0,4 Prozent der Todesfälle in der Schweiz*.
*EU-Studie «Medical End-of-Life Decisions», Daten wurden nur für die Deutschschweiz erhoben.